Beiträge unserer „Zugvögel“
Praktikum am MNIT (Teil 3)
Große Unterschiede
Was ist Indien? Ich kann nicht allgemein über Indien schreiben, denn ich bin nur in Nordindien. Genauer gesagt: In Jaipur, in Rajasthan.
Also dann: Was ist Jaipur?
Schon in meinem ersten Blogeintrag habe ich die Gegensätze beschrieben, die hier aufeinanderprallen. Und meine weiteren Eindrücke haben das bestätigt. An jeder Ecke wird hier gebaut, die Forschung ist ganz vorne dabei, man arbeitet interdisziplinär mit Forschern aus der EU, den Vereinigten Staaten, China, der Ukraine, an wirklich jeder Ecke wird für diese und jene Schule, Ausbildung oder Universität geworben. Mobiles Internet ist für wirklich jeden erschwinglich, es gibt Tarife, die sich sogar ein Tagelöhner leisten kann, und jeder Tarif bietet noch deutlich mehr Datenvolumen als ein beliebiger Tarif in Deutschland. Es gibt hippe Cafés und schicke Clubs, High Tech und Uber, elektrische Tuktuks und natürlich Audioguides in vier Sprachen im Museum.
Aber: Es gibt kein Trinkwassernetz, aus den Hähnen kommt nur Brauchwasser, die Kläranlagen sind überfordert. Sogar auf dem Hochschulgelände gibt es einen kleinen Slum, der erst nachträglich legalisiert wurde. Da hat keiner fließend Wasser oder einen Anschluss an die Kanalisation, und es gibt eine Gemeinschaftstoilette für alle Bewohner. Gekocht wird vielfach auf Holz und sogar auf getrockneten Kuhfladen, die für ein paar Tage am Rand der Melkstände auf das Gestrüpp gelegt werden, das die Rinder zum Melken bündelt. Doch diese Leute haben zumindest ein Heim.
Es gibt deutlich bitterere Armut. Ich habe im letzten Blog schon von bettelnden Kindern geschrieben, und darüber, wie normal sie im Stadtbild sind. Was ich noch nicht erwähnt habe, ist die hohe Anzahl an Versehrten, an Menschen, die kaum noch Zähne haben, humpelnde, verkrümmte. Einmal hatte ich einen Pizzaboten, dem das Blut aus dem Zahnfleisch lief. Gesundheitsfürsorge muss man sich hier leisten können.
Allgemein trifft das in Indien öfter zu: Man muss es sich leisten können.
Entsprechend habe ich hier eine recht gute Zeit: Auf den geschlossenen Campus kommen keine Bettler oder richtig Arme. Ich habe warmes Wasser, einen Reinigungsservice, kann in den Speisesaal oder ins Hostel zum Essen gehen, oder ich nehme einen der vielen Lieferdienste in Anspruch, um mir auch internationale Küche aufs Zimmer bringen zu lassen. Wenn ich dann umgerechnet einen Euro Trinkgeld gebe, fallen dem Motorradkurier vor Dankbarkeit die Augen aus dem Kopf.
Aber kaum verlasse ich dieses behütete Reich, sieht die Welt - teilweise - ganz anders aus. Denn alles kostet hier Geld. Bis zur Hälfte ihres monatlichen Einkommens geben indische Familien für die Schul- und Universitätsbildung ihrer Kinder aus, haben mir Freunde hier erzählt.
Die Hochschule bezahlt PhD-Studenten (also Doktoranden) monatlich, damit überhaupt jemand sich das leisten kann: selbst finanzstarken Familien der oberen Mittelschicht geht bis zu diesem Punkt der Bildung nämlich öfters das Geld aus. Das große Glück haben Mitarbeiter der Hochschule: Für deren Kinder gibt es nämlich eine subventionierte Grund- und Mittelschule auf dem Gelände, sogar mit einem Kontingent für Kinder von Geringverdienern aus der Umgebung. Die Armen hingegen bekommen kaum eine Bildung, und wenn, dann eine schlechte: Um auf die Schule des MNIT zu kommen, braucht man nämlich einen Wohnsitz in der Gegend. Den haben Obdachlose jedoch (offiziell) nicht...
Rollenverständnis
Mindestens genauso gewöhnungsbedürftig sind die konservativen Einstellungen, die mir im indischen Alltag begegnen. Wir waren vor einigen Wochen gemeinsam essen. Drei Doktorand*innen, zwei Masterstudierende und ich. Wir hatten uns geeinigt, gemeinsam zu bestellen und gemeinsam zu bezahlen, was in Indien ungewöhnlich ist; normalerweise lädt man sich reihum ein. Wir waren in dieser Runde jedoch selten unterwegs, daher die Ausnahme.
Wir also ins Restaurant, Platz genommen, geplaudert, die Karte durchgegangen. Kommt der Kellner, um die Bestellung aufzunehmen. I.D. (aus Südindien) gibt seine Wünsche an, ich meine und Paritosh die seinigen. Als die Mädels an der Reihe sind, zuckt der Stift des Kellners nicht mal auf dem Block. Erst als Paritosh die Order wiederholt, schreibt der Kellner pflichtschuldig mit, ohne die Frauen unserer Runde auch nur anzuschauen. Bei jeder von ihnen wiederholt sich das Spiel. Und keine beschwert sich darüber.
Auch im Hochschulalltag wird krasser Sexismus deutlich mehr toleriert, als ich es mir vorstellen konnte. Nicht nur, dass Studenten die Beine vor ihnen laufender Studentinnen kommentieren (in voller Lautstärke), und wenn auf dem "teachers day" erwartet wird, dass die Professoren lobgepriesen und bedient werden, machen das selbstverständlich die Frauen unter den Studierenden. Und natürlich bekommen die weiblichen Mitglieder der Fakultät, die von sich aus am Rand des Tisches sitzen, zuletzt vom Kuchen und vom Tee.
Tradition!
Auch wahnsinnig auffällig: Der große Wert, der hier auf eine "Bollywood-Hochzeit" gelegt wird.
Vor wenigen Wochen lag ich nach einem langen Tag abends etwas matschig im Bett. Auf einmal tut es einen Schlag, noch einen, rhythmisches Trommeln in voller Lautstärke. Ich bin verdattert aufgestanden und auf den Flur des Guesthouse hinaus. Alles voller bunt gekleideter Menschen, und ein vielleicht 16-Jähriger, der eine große Trommel in hohem Tempo schlug.
Da das selbst mit geschlossener Tür kaum auszuhalten war, und die Gänge wunderbar hallen, bin ich schließlich zu einem Abendspaziergang aufgebrochen, vor allem, um dem Lärm zu entkommen.
Draußen vor dem Guesthouse die nächste Überraschung: ein buntgeschmückter Blumentorbogen war über dem Eingang errichtet worden. In weniger als einer halben Stunde, ohne dass ich dies vor meinem Fenster bemerkt hätte.
Drei Tage lang war Tag und Nacht Trubel im Haus, was ich vor allem deshalb weiß, weil ich mich erkältet hatte und dadurch nicht gut schlief...Abwechselnd lief laute Musik, es wurden diese eigenartigen Zwischentongesänge gesungen, gern von mehreren älteren Frauen (und gefühlt direkt vor meiner Tür) oder verschieden große Trommeln geschlagen. Dazwischen wurde wohl ausgiebig gespeist (der sonst geschlossene Speisesaal in meinem Guesthouse war durchgängig geöffnet).
Wie ich später vom Wachmann erfahren habe, als eine blumengeschmückte Limousine vor der Tür stand, handelte es sich nur um eine Verlobungsfeier im kleinen Kreis.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass ein veraltetes Frauenbild der Grund für beides ist. Die Frauen werden in (Nord-)Indien in einer Rolle entweder als gute Mutter und Hausfrau oder als (noch) zu erwerbende Schönheit gesehen. Gerne wird früh und ausladend geheiratet. Eine Scheidung hingegen ist eine Schande, genauso wie Sex vor der Ehe (das gilt hier vor allem bei der Frau).
Frauenarbeit und Frauenbild
Dabei sind es die Frauen, die in Indien die harte Arbeit leisten. Nicht die Männer schleppen hier auf dem Bau die Zementsäcke oder schaufeln Kies und Sand für den Mörtel. Nicht die Männer stehen gebückt mit einer Sichel unter brennender Sonne auf den Grünanlagen der Hochschulen oder mähen den Rasen (per HAND). Das tun hier alles Frauen. Die Männer, die hier arbeiten, sind in den Küchen der Canteen, fahren mit dem Traktor über den Campus und lassen sich den Grünschnitt aufladen, kehren Büros oder servieren Getränke bei Konferenzen.
Dass sich eine der Doktorandinnen hier effektiv zur Laborchefin hochgearbeitet hat und nichts ohne ihr Abnicken veröffentlicht wird, ist neu, und auch ihre designierte Nachfolge ist weiblich. Ebenso wären die beiden weiblichen Fakultätsmitglieder am CEE (eine Assistenzprofessorin und eine außerordentliche Professorin) vor einigen Jahren wohl eher noch nicht möglich gewesen.
Dennoch ist es bitter, dass die Frauenwohnheime Tabuzonen für männliche Studierende sein müssen, damit Übergriffe vermieden werden, und dass rund um die Uhr Wachmänner (und gelegentlich die einzige Frau in deren Reihen) vor den Wohnheimtoren stehen. Veraltete Ehrbegriffe und ein verkrustetes Rollenverständnis tragen dazu bei, dass Frauen weniger geachtet werden. Und solange die ultrakonservativ-religiöse Partei des Premierministers Modi hier regiert, so sagt man mir, sieht es auch eher nicht so aus, als könnte sich das so bald deutlich verbessern.
Gewalt und Politik
Im Gegenteil: das Vertrauen in die Regierung und die Justiz schwindet und rohe Gewalt setzt sich durch. Am 6. Januar wurde der Campus der Jawaharlal Nehru University in Delhi (JNU), eine der besten Universitäten des Landes, von einem mit Eisenstangen bewaffnetem Mob angegriffen. Die JNU ist als tendenziell etwas links bekannt und hat außer einem Nobelpreisträger auch die ehemaligen Premierminister von Nepal und Libyen hervorgebracht. Die Angreifer sind wohl Mitglieder der ABVP, dem studentischen Arm der Regierungspartei BJP. Als wäre das nicht schon schlimm genug, hat sich die Polizei mehr als eine Stunde lang geweigert einzugreifen.
In Indien brodelt es, Freunde von mir machen sich große Sorgen. Wenn eine Partei ihre Schläger losschicken kann und die Polizei einseitig instrumentalisiert wird (bisher wurden mehrere regierungskritische Demonstrationen niedergeknüppelt, es wurde sogar geschossen), dann sehen viele von ihnen die Demokratie als leere Hülle eines radikalen Regimes. Jedoch: es ist keineswegs einseitig. Ein Kollege von mir (der das hier hoffentlich nicht liest) ist vom starken Durchgreifen der Regierung beeindruckt, hält nichts von Muslimen und bezweifelt, dass ein Zusammenleben im selben Land möglich ist. Oweys, der Inhaber meines Stammrestaurants (hat leider vorige Woche geschlossen :-( traurig!) sieht das anders. Er meinte sogar, Indien sei auf dem Weg zur rassistischen, religiösen Diktatur, in der alle außer den Hindus unterdrückt und Minderheiten dramatisch misshandelt werden. Zumindest die meisten Muslime werden ihm zustimmen, vor allem, nachdem eine neue Gesetzeskombination (Citizenship Amendment Bill, CAP und das neue National Register of Citizens) es vielen unmöglich machen wird, ihre Staatsbürgerschaft nachzuweisen und explizit Muslimen eine Einbürgerung verbietet. Das ist laut Oweys ein direkter Verstoß gegen Indiens säkulare Verfassung. Erst gestern wurde, nach einem Urteil des obersten Gerichtshofes und auch nur widerwillig und teilweise, im indisch besetzten Kaschmir (umstrittenes Gebiet mit Pakistan), nach über 130 Tagen das Internet und Telefonnetz wieder hergestellt. Derzeit ist es allerdings auf Krankenhäuser, Banken sowie Regierungs- und Verwaltungsgebäude beschränkt und streng überwacht, ein medizinischer Notruf ist also nach 130 Tagen immer noch nicht möglich. Das Mobilfunknetz (von dem in Indien so gut wie alle Kommunikation abhängt) soll erst im Laufe der Woche folgen, und auf vergleichsweise ultra-langsames 2G beschränkt bleiben. Die in der bisher autonomen Region Kaschmir in einer Nacht- und Nebelaktion festgenommene bisherige gewählte Regierung sitzt immer noch in Gefängnissen in anderen Landesteilen, während Kaschmir in zwei Provinzen umgewandelt und direkt aus Delhi regiert wird. Die Demonstrationen laufen noch immer. In einem Punkt muss ich Oweys zustimmen: nach freiheitlichem Rechtsstaat sieht das derzeit nicht aus.
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